Das Hauptziel der biologischen Bewertung von Medizinprodukten besteht darin, die Sicherheit und Biokompatibilität des Produkts für seine Zweckbestimmung zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass die potenziellen Risiken unerwünschter biologischer Reaktionen bewertet werden, die auftreten können, wenn das Produkt mit dem Körper eines Patienten in Kontakt kommt.
Im Rahmen des Risikomanagementprozesses nach EN ISO 14971; für den biologischen Bewertungsprozess (EN ISO 10993) müssen verschiedene Faktoren geprüft werden, um die endgültige Biokompatibilität des Produkts zu beurteilen.
Die Zusammensetzung des Produktmaterials und der Zusatzstoffe, potenzielle Kontaminationen aus dem Herstellungs- und Produktionsumfeld sowie aus Reinigungs-/Desinfektions-/Sterilisationsverfahren usw. müssen neben der Definition der Zweckbestimmung, die die Kontaktgewebe und die Kontaktzeiten für das Produkt bestimmt, bei der Bewertung potenzieller toxikologischer schädlicher Auswirkungen auf den Patienten berücksichtigt werden.
All diese Faktoren bestimmen den chemischen Fingerabdruck des Produkts, genauer gesagt, die Menge der Stoffe, die mit der vorgesehenen Einsatzumgebung (Patientengewebe und Körperflüssigkeiten) in Wechselwirkung treten könnten.
Was behandelt die Norm ISO 10993-17 im Zusammenhang mit der biologischen Bewertung? Diese Norm kann als ein Instrument verstanden werden, das Konzepte zur Abschätzung der potenziellen toxikologischen Auswirkungen dieser interagierenden Stoffe bereitstellt.
Im Jahr 2023 wurde eine Überarbeitung der mit Spannung erwarteten ISO 10993-17:2002 veröffentlicht, die eine Reihe von Änderungen an den zuvor festgelegten Parametern für die toxikologische Risikobewertung enthält. Die erste Änderung beginnt mit dem überarbeiteten Titel der ISO 10993-17:2023, der nun “Biologische Beurteilung von Medizinprodukten – Teil 17: Toxikologische Risikobewertung von Medizinproduktbestandteilen” lautet.
Wir möchten weitere Änderungen erörtern, um die Hersteller von Medizinprodukten, Lieferanten und Experten für die wichtigsten Änderungen zu sensibilisieren, da die neue Norm bereits harmonisiert wurde und daher als Maßstab für die Verwendung neuer Schlüsselkonzepte und damit verbundener Instrumente für die Bewertung chemischer Bestandteile von Medizinprodukten betrachtet werden muss.
Prozess der toxikologischen Risikobewertung bis zum Inkrafttreten der ISO 10993-17
Die neue Revision der ISO 10993-17 entwickelt die Idee weiter, die biologische Bewertung an den aktuellen Stand der Technik im Bereich der Toxikologie anzupassen und spiegelt die Bemühungen um eine weitere Angleichung an die anderen ISO 10993-Normen wieder.
Es werden neue Konzepte und Parameter eingeführt und einige alte Parameter ersetzt.
Für die toxikologische Risikoanalyse ist es von größter Bedeutung, Informationen über die chemische Zusammensetzung eines Medizinprodukts zu erhalten. Diese Informationen sind beispielsweise über Materialdatenblätter zugänglich, vor allem aber über Labortests zur Bestimmung der auslaugbaren oder extrahierbaren Stoffe (je nach Zweckbestimmung des Medizinprodukts) gemäß ISO 10993-18.
Die analytischen Daten der Extrakte werden entsprechend aufbereitet, um verwertbare chemische Informationen über die Inhaltsstoffe (Konzentrationen) zu erhalten. Anhand von Konzentrationsdaten und den Richtlinien und Konzepten der ISO 10993-17 können toxikologische Risiken abgeschätzt werden.
Die Entscheidung gemäß ISO 10993-1, ob eine toxikologische Risikobewertung für Verbindungen/Bestandteile eines Medizinprodukts erforderlich ist oder nicht, bleibt von der neuen Revision der ISO 10993-17 unberührt.
Ist eine toxikologische Risikobewertung erforderlich, sammelt der Bewerter alle relevanten toxikologischen Informationen zu den einzelnen Bestandteilen.
Die Suchkriterien müssen dokumentiert werden, was auch ihre Begründung hinsichtlich Qualität, Zuverlässigkeit und Eignung für den beabsichtigten Anwendungsfall einschließt.
Toxikologische Informationen werden in der Regel in Datenbanken wie ECHA (European Chemicals Agency), PubMed, WHO (Weltgesundheitsorganisation), Toxplanet, EPA (Umweltschutzbehörde), Carcinogenic Potency Database (CPDB), Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) usw. gesammelt. Die potenzielle Schädlichkeit und Toxizität einer Chemikalie lässt sich aus Aufzeichnungen über ihre schädlichen und toxischen Wirkungen und aus toxikologischen Parametern ableiten, z. B. DNEL (derived no-effect level), NOAEL (no-observed adverse effect level) oder (LOAEL) (lowest observed adverse effect level). Idealerweise sollten mehrere Datenbanken in Betracht gezogen werden, um mehr als eine Datenbankquelle für jeden Inhaltsstoff zu berücksichtigen. In Fällen, in denen keine Informationen zur Toxizität verfügbar sind, können strukturell ähnliche Stoffe mit ausreichenden Toxizitätsdaten als Analogon für die Bewertung dienen. Die Auswahl geeigneter Analoga erfordert jedoch angemessene toxikologische Kenntnisse.
Diejenigen Verbindungen mit relevanten biologischen Schäden werden dann anhand der ISO 10993-17 weiter bewertet.
Die wichtigsten Änderungen der ISO 10993-17
Nach den bereits erwähnten Untersuchungen kommen nun Änderungen an der neuen ISO 10993-17 ins Spiel.
Zwei wichtige Parameter, die die zuvor berechnete “tolerierbare Exposition (TE)” ersetzen, sind zunächst die so genannten TQmax– und TSL-Werte.
TQmax gibt die Menge eines Bestandteils an, die in einem Medizinprodukt vorhanden ist oder aus diesem extrahiert werden kann, und ist das Produkt aus TQ (freigesetzte Gesamtmenge) und einem Skalierungsfaktor SF, der als Faktor eingeführt wird, der das Verhältnis zwischen der Oberfläche des extrahierten Medizinprodukts und der Fläche, die tatsächlich mit dem Körper des Patienten in Kontakt ist, darstellt.
Dann gibt es noch die ebenfalls neu eingeführte Toxikologische Screeninggrenze (Toxicological Screening Limit, TSL). Diese enthält den bekannten TTC-Wert – eine weitere Angleichung an ISO/TS 21726 – und kombiniert ihn mit der angenommenen Expositionszeit gegenüber dem spezifischen Inhaltsstoff.
Der TSL-Wert wird verwendet, um zu bewerten, ob die Gesamtmenge eines identifizierten chemischen Bestandteils hoch genug ist, um unter Berücksichtigung einer kumulativen Expositionsdosis über einen bestimmten Zeitraum Krebs, systemische Toxizität, Genotoxizität oder Reproduktionstoxizität zu verursachen. Es ist keine toxikologische Risikobewertung erforderlich, wenn die mit dem Skalierungsfaktor (TQmax) korrigierte Gesamtmenge eines extrahierten chemischen Bestandteils unter dem TSL-Wert liegt.
Die Überlegung, die hinter der Einführung der TSL steht, ist die Verringerung der Arbeitslast der Bewerter bei der toxikologischen Risikobewertung.
Von größerer Bedeutung ist die Bewertung der potenziell schädlichen chemischen Bestandteile.
Das TSL-Konzept ist jedoch in den folgenden Fällen nicht anwendbar: Stoffe der besorgniserregenden Kohorte, flüchtige organische Verbindungen, die aus Patienten-Atemwegssystemen mit indirektem Kontakt zu Patienten extrahiert werden (ISO 18562), reizbedingte Schäden, Geräte, die als Produkte mit Langzeitkontakt kategorisiert sind und von Neugeborenen bis zu Kleinkindern verwendet werden, und nicht charakterisierte (unbekannte) Verbindungen.
Daher kann die TSL – wenn die bewerteten Stoffe nicht unter die oben genannten Kriterien fallen – zur Eliminierung von Stoffen verwendet werden, die das Kriterium TQmax < TSL erfüllen, aber in höheren Konzentrationen als der analytisch ermittelten analytischen Bewertungsschwelle (Analytical Evaluation Threshold, AET) nach ISO 10993-18 nachgewiesen wurden, die für die gewählte analytisch-technische Methode spezifisch ist.
Das Konzept der tolerierbaren Aufnahmemenge (Tolerable Intake, TI) ist in der ISO 10993-17 enthalten.
Toxikologisch relevante Parameter (z. B. LOAEL) werden als Ausgangspunkt (Point of Departure, POD) bezeichnet, für den der klinisch relevanteste Parameter ausgewählt werden muss, während die TI als Verhältnis zwischen POD und dem modifizierenden Faktor (MF) berechnet wird, der das Produkt der Unsicherheitsfaktoren ist, wie es auch in der älteren Version der Norm beschrieben wurde.
Es ist zu beachten, dass die Auswahlkriterien und -niveaus für Unsicherheitsfaktoren in dieser Norm weiter verfeinert wurden, insbesondere wurde die Bioverfügbarkeit eines Stoffes als neues wichtiges Kriterium hinzugefügt. Die Auswahl geeigneter Unsicherheitsfaktoren für Extrapolationen zwischen PODs, verschiedenen Expositionswegen und -dauern, physikalischen Zuständen von Chemikalien und Datenqualität und -zuverlässigkeit sowie von patientenpopulationsspezifischen Faktoren wird in der überarbeiteten Version besser angeleitet.
Bei reizenden Stoffen kann, wenn ausreichende Informationen über die Reizschwelle vorliegen, der Beurteilungsweg über die tolerierbare Kontaktmenge (Tolerable Contact Level, TCL) gewählt werden, wie es auch in der älteren Norm beschrieben ist, allerdings unter Berücksichtigung der neuen Verfeinerungen der Unsicherheitsfaktoren.
Falls keine Schwellenwertparameter gemeldet werden, kann der Ansatz des toxikologisch bedenklichen Schwellenwerts (Threshold of toxicological concern, TTC) verwendet werden. Je nach Toxizität einer Verbindung – ob karzinogen/mutagen/reproduktions- oder entwicklungstoxisch oder nicht – kann ein geeigneter TTC-Wert festgelegt werden. Cramer-Klassen liefern die korrekten TTC-Werte für Nicht-CMR-Verbindungen, während CMR-Verbindungen einer strengeren Bewertung über die CMR-verbindungsspezifischen TTCs unterzogen werden müssen. Das Risiko einer potenziellen Schädigung von Bestandteilen wird als akzeptabel angesehen, wenn die schlimmstmögliche Expositionsdosis unter den wahrgenommenen TTC-Werten liegt.
Für die anderen Fälle, in denen TI- und TCL-Werte ermittelt werden konnten, wird eine Sicherheitsspanne (Margin of Safety, MOS) berechnet, um das toxikologische Risiko dieser einzelnen Stoffe abschließend zu bewerten. Der MOS-Wert wird mit den Kriterien für die Akzeptanz des toxikologischen Risikos (ISO 10993-1/ISO 14971) verglichen, um zu entscheiden, ob ein Stoff als akzeptabel gilt oder ob Verfahren zur Risikominimierung eingeführt werden müssen.
Zur Berechnung des MOS wird ein weiterer Parameter eingeführt: die Worst-Case Expositionsdosis (EEDmax). Der EEDmax-Ansatz stellt eine klinisch relevantere Exposition dar und berücksichtigt die bekannte oder angenommene Freisetzungskinetik einer Verbindung über den Zeitraum der Anwendung. Grundsätzlich liefert er Informationen über die ungünstigste Exposition pro Tag für einen chemischen Bestandteil, der mit dem Körper des Patienten in Kontakt ist und aus dem Produkt freigesetzt wird. In der Norm werden mehrere Möglichkeiten beschrieben, um die Freisetzungskinetik einer Verbindung zu ermitteln. Dies kann die simulierte Extraktionsmethode sein (Produkte mit weniger als 24 Stunden Patientenkontakt) oder die Durchführung einer Studie zur Freisetzungskinetik, bei der Daten innerhalb bestimmter Zeiträume gesammelt werden. Echte Studien zur Freisetzungskinetik können auch durch die in der Norm beschriebenen Berechnungsmethoden über die definierten Zeiträume umgangen werden, in denen akute, subakute, subchronische und chronische Toxizität auftritt. Außerdem ist ein Skalierungsfaktor zu berücksichtigen, der die maximale Anzahl der klinisch genutzten Geräte berücksichtigt.
Außerdem wurde eine krebsrisikospezifische Dosis (Cancer risk-specific Dose, CRSD) eingeführt, um Karzinogene für den Menschen und mutmaßliche Karzinogene für den Menschen zu bewerten. Sie berücksichtigt ein akzeptables lebenslanges Krebsrisiko von 1 zu 100000 (10-5). Dieser Wert ist in erster Linie über den Krebsneigungsfaktor oder den TD50-Ansatz zugänglich, aber auch andere Ansätze sind zulässig, wenn sie begründet und dokumentiert sind.
Nicht zuletzt sollten auch einige kleinere Änderungen nicht verschwiegen werden:
Hinsichtlich des Gewichts und der Patientenkategorien wurde der Referenzwert für erwachsene Frauen von 58 kg auf 60 kg angehoben, während für Kinder und Neugeborene folgende Gewichte zugrunde gelegt werden müssen 1,5 kg (sehr geringes Gewicht) und 0,5 kg (Frühgeborene). Dies ist auch eine Angleichung an die in der ISO 18562 beschriebenen Referenzgewichte.
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Diese zusammengefassten Änderungen in der Norm werden sich auf Toxikologen und Hersteller auswirken, die toxikologische Risikobewertungsberichte erstellen. Wir empfehlen die Teilnahme an von Experten geleiteten Schulungen, um die neuen Anforderungen der aktualisierten Norm ISO 10993-17 vollständig zu verstehen. Diese Änderungen werden die Durchlaufzeit für die Erstellung toxikologischer Risikobewertungsberichte verkürzen. Nehmen Sie einfach Kontakt mit uns auf!
Bitte beachten Sie, dass alle Angaben und Auflistungen nicht den Anspruch der Vollständigkeit haben, ohne Gewähr sind und der reinen Information dienen.